Vom Auftauchen und Verschwinden

Thema und Takt – die Welt wird abstrakt.

Die moderne Welt der bürgerlichen Gesellschaft bringt ein neues, abstraktes Denken in die Welt. Zwar gab es auch in der Antike und im Mittelalter abstraktes Denken, aber das war der Bereich der Philosophie. Wissenschaften unserem heutigen Sinn nach gab es noch nicht. Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik waren damals als das so genannte Quadrivium ein Teil der sieben freien Künste. Wir sehen daran, dass die vorbürgerliche Zeit mit anderen Begriffen hantierte, als wir es tun, und diese Begriffe hatten auch andere Inhalte. Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik waren ein Teil der kunstvollen Anordnung der Welt, der Schöpfung, und die Sphären der Planeten, die nach geometrischen und arithmetischen Gesetzen angeordnet waren, ergaben in ihrer Bewegung eine harmonische Musik, wobei Saturn der tiefste Ton und dem Mond der höchste Ton zugeschrieben wurde.

Die Entwicklung der Einzelwissenschaften machte mit solchen Vorstellungen Schluss und auch die Musik war davon betroffen, ganz abgesehen davon, dass Kunst nun anders definiert wurde, eben als künstlerisch-ästhetische Hervorbringung und nicht mehr als handwerklich-philosophische. Abstrakte Vorstellungen drangen nun auch in die Kunst ein und damit auch andere Lehren.

Der Rhythmus wurde davon zuallererst betroffen, in der Dichtung wie in der Musik. Früher waren die Noten, die den Rhythmus eines Musikstücks wiedergaben, nach konkreten Vorstellungen bezeichnet: Sie hießen maxima, longa, brevis und semibrevis und bezogen sich auf die Länge der Noten, die in zahlenmäßigen Verhältnissen zueinander standen. Eine longa hatte in der Regel den Zeitwert von drei breves, aber das musste nicht immer so sein. Die Rhythmen, die damit wiedergegeben wurden, waren völlig anders als unsere gewohnten getakteten Rhythmen, die sich nach betonten und unbetonten Taktteilen richten und wo die Dauer der Noten keine Rolle spielt, Längen und Kürzen nur Funktionen des Taktschlags sind. Dass ein Rhythmus sich nur am Spiel der Tondauer orientiert, ist für unsere modernen Ohren nicht mehr nachvollziehbar. Lieder aus der Renaissance klingen für uns falsch betont, wenn sie richtig gesungen werden. Nur selten taucht noch in alten Liedern und Gedichten ein Rhythmus auf, der eine domestizierte Form der germanischen Langzeile ist: „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, oder: „Der Mond ist aufgegangen“. Hier kann die Länge auf der vorletzten Silbe noch als Teil des Rhythmus jenseits der Abfolge betont – unbetont erkannt werden.

Der Takt mit der Abfolge betont – unbetont, entweder als Zweier- oder als Dreiertakt (mit zwei unbetonten Schlägen nach dem betonten Schlag) oder als Vielfache davon (Viervierteltakt oder Sechsachteltakt und Ähnliches), ebnete mit seiner wissenschaftlich-mathematischen Herangehensweise den Weg für weitere Veränderungen. Die Angabe adagio etwa bezeichnete früher nicht nur das Tempo, sondern auch die Stimmung. So konnte es geschehen, dass Bach etwas als adagio angab, dann aber Notenwerte von Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln aufschrieb, um zur Stimmung adagio schnelle Musik zu verlangen. Die logische Weiterentwicklung des neuen Taktverständnisses war die Erfindung des Metronoms und die Angabe der Schlaganzahl pro Minute in den Partituren, die konkrete Stimmung oder Gemütsregung trat hinter der abstrakten Schlagzahl zurück.

Auch der musikalische Gedanke und das musikalische Geschehen wurden abstrakter. Noch in der Barockzeit, in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, waren die Musikstücke häufig durch das Ritornell bestimmt. Das heißt, es gab eine refrainartige Abfolge von Antworten oder Bestätigungen auf Soli durch das Orchester, ein institutionalisiertes Frage- und Antwortspiel, das durchaus elaboriert sein konnte. In den Konzerten und Suiten war es klar erkennbar, aber auch beispielsweise in den Passionen, Oratorien, die die Leidensgeschichte zu Ostern aufführten. Da folgte auf das Rezitativ des Evangeliumstextes eine Arie mit den Gemütsregungen und Reflexionen der gläubigen betrübten Seele. Solch konkrete auf Situationen bezogene Musik bot das Konzertgeschehen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr oder nur in wesentlich geringerem Maß an. Der musikalische Gedanke, die kompositorische Idee, war nun ein Thema, oft recht dürr, vielleicht nur eine schlichte Dreiklangzerlegung; beispielhaft ist der Beginn der fünften Symphonie Beethovens mit dem bekannten dadadadamm, dadadadamm. Dieses Thema wurde nun vorgestellt, entwickelt, durchgeführt, variiert, enggeführt – mit einem Wort, statt des barocken Hinundher haben wir es nun mit einem Vortrag, statt des Gesprächs mit einem Monolog zu tun. Das entspricht der gesellschaftlichen Entwicklung: Das vereinzelte Individuum wird zum sozialen Akteur und das drückt sich auch in der Musik aus.